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Reisetagebuch

Während meiner Südamerikareise 2002 habe ich regelmässig Berichte nach Hause geschickt und auf dieser Seite veröffentlicht. Die Berichte erheben weder Anspruch auf politische Korrektheit noch Objektivität. Sie sollen einfach wiederspiegeln, was ich erlebt und dabei empfunden habe.
Ich habe ebenfalls ein paar Daten zusammengetragen und eine kleine Reisestatistik erstellt.

Aus den überarbeiten Berichten ist ein bebildertes Buch geworden. Wer gerne ein Exemplar möchte, soll sich bei mir melden. Das Buch ist aber auch online erhältlich: [PDF] (6MB download)

Die original-Berichte sind immer noch online:
20.2.2002 - Zu Hause
5.3.2002 - Puerto Montt
15.3.2002 - Osorno, Chile
21.3.2002 - Temuco, Chile
29.3.2002 - La Serena, Chile
4.4.2002 - La Serena, Chile
10.4.2002 - Iquique, Chile
19.4.2002 - La Paz, Bolivia
29.4.2002 - Sucre, Bolivia
6.5.2002 - Sucre, Bolivia
20.5.2002 - Santa Cruz, Bolivia
Drei Tage arbeitete ich im Bibliobus, dem belgischen Bildungsprojekt. Der Bus fährt zweimal täglich in die ärmeren Randviertel von Sucre, also nicht in den Campo, wie ich zuerst gedacht hatte. Die Kinder zwischen 6 und 13 kommen um ihre Hausaufgaben zu machen, zu lesen und zu spielen. Viel Mühe hatte ich, das spanisch der Kinder zu verstehen und erst recht ihre Namen, die ich aufzuschreiben hatte. Eine grosse Hlfe war ich jedenfalls nicht. Die meiste Zeit las ich Zeitung, oder den gestiefelten Kater auf Spanisch.
Wenn die Kinder auch aus armen Familien kommen und oft nur schäbige Lumpen tragen, so unterscheidet sich ihr Verhalten doch nicht von dem von schweizer Kindern. Im Wesentlichen läuft das Spielen und Aufgabenmachen gleich ab.
Auf jeden Fall war es eine gute Erfahrung, in ein solches Projekt reinzuschauen.
Gleich nach meinem letzten Bericht lief mir Claudio über den Weg. Er ist mittlerweile auch in Sucre angekommen und wohnt bei derselben Familie, welche auch mir Obdach bot. Es ist schon schön, in der Fremde auf bekannte Gesichter zu stossen. Schweizerdeutsch zu sprechen kam mir erst etwas spanisch vor, war es doch schon eine geraume Weile her, dass diese Sprache meine Zunge steuerte. Sogar meine Gedanken versuchten sich ab und zu in Englisch und Spanisch.
Der Kollege Durchfall blieb mir nebenbei noch etwas erhalten. Ich begann mit Parasiten zu rechnen und gab ihnen Saures. Mit Tequilas und Caipiriñas heizte ich ihnen ein, gefolgt von einer Joghurt-Brot-Diät. Spätestens mit den Kohletabletten war die Sache vorübergehend geregelt. Mittwoch und Donnerstag waren also dem härteren Alk verschrieben. Dementsprechend heiter wars im Bibliocafé, der wohl besten Bar und willkommenen Alternative zum "yes, we are dutch"-Joy Ride-Gringo-Café welches leider unser Stammlokal darstellte.
Am Mittwoch, nach der erwähnten Desinfektionsaktion, war eine Medizinstudentenparty angesagt. Wir tanzten ab, was das Zeug hielt. Die Stimmung war einzigartig, ganz anders als man es sich als Mitteleuropäer gewohnt ist. Dafür sind die Besoffenen auch leicht erhitzbare Gemüter, was unter ihnen immer wieder kurze Prügeleien verursachte.
Mich beeindruckt, wie populär hier lokale Musik ist. Folksmusik ist kein verpöntes Relikt für die Alten, sondern bei allen populär und sie beeinflusst auch den Stil kommerzieller Bands. Fast alle Jugendlichen beherrschen die traditionellen Tänze. Musik ist hier noch nicht zum Konsumgut verkommen, sondern bildet einen festen Bestandteil der Kultur und wird gelebt.
Eigentlich erstaunt dies nicht besonders, wenn man bedenkt, wie lokal auch die hiesige Weltanschauung ist. Erst kommt die Familie, dann das Dorf. Viel weiter reicht es selten. In den Tageszeitungen wird das internationale deshalb auch auf die letzten zwei Seiten gezwängt und füllt nicht den ersten Bund wie bei uns. Einen Versuch über den Einfluss dieser Tatsache auf die schrecklichen politischen Verhältnisse hier lasse ich wohl bleiben. Ich befinde mich in einem Land, das seinen ehemaligen Diktator, Banzer, demokratisch wiedergewählt hat, das sagt schon einiges. Der ist übrigens kürzlich gestorben. Trotz allem, was er verbrochen hat, aller Leute, die er auf dem Gewissen hat, wurde er gefeiert und in den Zeitungen erschienen Tributbeilagen. Im Moment herrscht Wahlkampf, Veränderungen sind aber kaum in Sicht. Kein einziger Kandidat macht soziale Reformen ernsthaft zum Thema.
Am Freitag wurden wir von Roberto, unserem Meister, zu einem traditionellen Fest nach Miskamayu eingeladen, irgendwo weit weg im Campo. Huberta, eine Österreicherin, auch dem Zampoña-clan angehörig, und ich waren die einzigen Gringos weit und breit.
Bei diesem Dorf handelt es sich um ein Entwicklungsprojekt der Masis, also von Quechua für Quechua. Sie bauten und führen eine Schule, eine Kirche und sonstige Infrastruktur für die dortigen Campesinos. Bis zur 3.Klasse wird in Quechua, der Indiosprache, unterrichtet und es werden Traditionen gepflegt. Hiermit sollen die Werte der Indiokultur weitergegeben werden. Wie in Sucre gibt es auch hier eine grosse Zampoñagruppe.
An diesem Tag warfen sich alle in ihre bunten Kostüme. Gemeinsam wurde die Zeremonie begonnen, mit Coca und einem Schluck Alkgetänk für jeden, den ersten natürlich immer für die Pachamama, die Mutter Erde. Ungeachtet unserer weissen Haut wurden wir als Freunde aufgenommen und nahmen an den Ritualen teil. Es wurde viel gespielt und gegessen.
Die Masis starteten das Projekt vor 22 Jahren, gegen viel Widerstand der Regierung. Heute arbeiten sie mit Caritas und, laut Roberto leider, mit der Regierung zusammen, welche beide Repräsentanten zu diesem Anlass schickten. Der Minister von Tarabuco kam mit 3h Verspätung unmd wohl auch nur, weil gerade Wahlen stattfinden. Roberto hat ihn in seiner Ansprache deswegen gehörig angefahren, was hierzulande eigentlich niemand wagt. Da kennt er nichts - und hat recht.
Wir durften ein sehr schönes, traditionelles Fest miterleben.
Wieder zurück erwarb ich bei den Masis eine professionelle Quena, ein wunderbares Instrument.
Danach zum zweiten Mal BarBQ auf Scott&co's Dachterrasse, gefolgt von Abtanzen im "Mitos" zu Latinohits und dem übelsten, was die westliche Szene zu bieten hat bis in die frühen Morgenstunden.
Am Sonntag machte ich mich auf nach Uyuni um die Salar-Tour zu machen. Im Bus nach Potosí fragte mich meine Nachbarin, ob ich Mönch sei, als ich mein Taschenbuch zückte. Bücher, besonders beletristischer Natur, sind hier selten. D.h. es muss wohl eine Bibel sein und dass ich sie lese, lesen kann, heisst wohl, dass ich Mönch bin.
Die Fahrt war anständig kalt und unruhig, dafür unter herrlichem Sternenhimmel. Um 1:00 Uhr kam der Bus an, weitere paar Stunden durften wir im Bus bleiben, um zu schlafen.
Gut durchgefroren startete ich die 4-Tages-Tour noch am selben Tag.
Der Salar ist einzigartig. Eine unendlich weite, weisse strahlende Fläche. Die Helligkeit auf dem Salar ist unbeschreiblich, ohne Sonnenbrille könnte man die Augen kaum offenhalten.
Tag 2 führte uns an Lagunen mit Flamingos vorbei zur Laguna Colorada, die bei Sonnenschein knallrot leuchtet, dank Wolken waren diese Momente aber nur kurz. Es begann zu hageln und je später es wurde, desto saukälter. Wir spielten Arschloch, die friedliche Runde wurde aber um 20:00 Uhr durch Ausgehen der Stromversorgung abrupt beendet.
Um 6:00 Uhr morgens gings weiter, um bei Sonnenaufgang bei den Geysiren zu sein. Durch frisch verschneite Landschaftund über 5000m führte die Strasse, oder besser Gesagt, die Gemeinschaft aller Fahrrinnen, die die Landschaft durchqueren. Leider ist die Landschaft zu oft durch die vielen Fahrspuren der zig Jeeps etwas geschändet.
Auf ca. 4500m erwartete uns eine Therme mit etwa 35°C, die ich mir natürlich nicht entgehen lassen konnte, trotz der bei Ankunft wohl um die 0°C Lufttemperatur. Ich genoss das Bad für eine knappe Stunde, inklusive Frühstück im Wasser. Weiter gings durch den "Desierto Salvador Dali". Tatsächlich erinnert diese LAndschaft aus dunkelroter Erde und herumliegenden Lavabrocken an Dali's Kunst. Genial waren auch die Laguna Verde und Blanca. So viele Farben mischen sich in dieser Aussicht.
Hier hätte der Transfer der Leute stattfinden sollen, die nach Chile wollten, doch der Bus von San Pedro blieb im unerwarteten Schnee stecken. Folge davon war, dass wir, die nach Uyuni zurück wollten, unseren komfortablen LandCruiser gegen ein etwas heruntergekommenes Vorgängermodell eintauschen mussten und einen neuen Fahrer kriegten.
Die letzten eineinhalb Tage waren leider hauptsächlich Zurückfahren nach Uyuni. Zum Glück verbrachte ich die ruppige Fahrt dank meiner Grösse und netter GefährtInnen nur kurze Zeit auf der Hinterbank.
Noch am Mittwochabend packte mich ein weiteres Mal der Compadre Durchfall, mein treuer Begleiter die letzten Wochen.
Auf der Suche nach einem späten Bus zurück nach Potosí holte mich die Bolivianische Realität wieder ein. Dank bolivianischem Sinn für Angebot und Nachfrage verteilen sich die Abfahrtszeiten der etwa zehn Busgesellschaften nicht etwa in vernünftiger Weise über den Tag. Nein, alle zehn fahren gleichzeitig morgens um 10:00 und abends um 19:00 Uhr, um etwa um 2:00 Uhr in der Nacht in Potosí anzukommen. Freundlicherweise lassen sie einen dann aber im Bus weiterschlafen, bevor sie 5h später nach Sucre weiterfahren.
So war ich also genötigt, Uyuni schon um 19:00 Uhr zu verlassen. Glücklicherweise war der mittlere Sitz der hintersten Reihe noch frei. Da rüttelts zware am meisten, dafür habe ich Platz für meine unbolivianischen Beine. Meine Hoffnung, neben mir bliebe was frei, wurde von zwei Amis zerstört. Nach und nach füllte sich auch der ganze Gang mit teils am Boden liegenden, teils stehenden Leuten.
Sops ass ich also da, eingequetscht zwischen einem gutgenährten Boliviano und einem Ami, dessen Kopf ständig etwas Frieden auf meiner neutralen Schulter suchte und sein Compadre nebenan funzelte ständig mit seiner Stirnleselampe im dunklen Bus herum. Dazu penetrante bolivianisch Schnulzen mit Synthesizerbläsern und -streichern, selbstverständlich mit dem nötigen overdrive einer schlechten Anlage. Wie ich doch meinen Minidisc liebe.
Shaken not stired kam ich also in Potosí an, zu einer Zeit, die nicht einlädt, ein Bett zu suchen. So schlief ich also im Bus.
Bevor ich nach Sucre zurückkehrte besuchte ich noch ein Kolinialmuseum, vor allem der Münzprägung gewidmet.
Es ist interessant, wie in Museen immer die Eroberersicht dargestellt wird. So wird zum Beispiel die Evangelisation der Indios als Sieg des Christentums dargestellt. Mit Roberto habe ich auch schon darüber gesprochen. In seinem Zimmer befinden sich sowohl Symbole der Religion der Quechua, wie auch eine Jungfrau Maria. Er hat das mit Toleranz seiner Religion erklärt. Für ihn ist dies ein Nebeneinander und kein Widerspruch.
Es ist in den Kirchen sichtbar, dass sich die Kulturen vermischt haben. Im wesentlichen sehen sie zwar gleich aus, wie bei uns, trotzdem gibt es Einflüsse, vor allem im Zusammenhang mit Pachamama, der wichtigsten Gottheit der Indios.
Danach fuhr ich zum fünften Mal die Strecke Potosí-Sucre.
Zurück in sucre besuchte ich Roberto wieder. Danach sass ich wiedermal ins Joy Ride, wechselte ins Bibliocafe wo ich Claudio wieder traf, ging ins Mitos...; es wird Zeit, Sucre zu verlassen. Es ist zu einfach, hier für eine weitere Weile sesshaft zu werden und herumzuhangen. Dafür bin ich nicht gekommen.
Am Tag danach hatte ich endlich mal Gelegenheit, etwas länger mit Roberto zu sprechen. Ich wollte mehr über seine Arbeit und sein Leben erfahren. Im Gespräch Bestätigte sich mein Eindruck von der Mehrheit der Bolivianer weitgehend.
Mir scheint, die Leute hier krümmen keinen Finger, im ihre Lage zu verbessern. Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, ob sich der Zustand der ärmeren Bevölkerung ändert. Es ist auch eine Frage des Efforts der Leute selbst. Dieser ist aber so gut wie nicht vorhanden. Keiner will einen verantworungsvollen Posten, es ist einfacher, simple Arbeit zu verrichten.
Roberto sieht den Grund in den Spätfolgen der Kolonialzeit, als die Indios gezwungen wurden, immer "si señor" zu sagen. Sie verloren nach und nach ihre Kultur, Ihre Identität, Selbstvertrauen und Stolz. Dies habe jegliche Kreativität und Energie gekostet. Dies zu verändern ist auch Inhalt des Projektes der Masis.
Man darf natürlich auch nicht vergessen, dass die Machtstrukturen immernoch ähnlich sind und der Druck auf diejenigen Leute gross ist, welche ihre Stimme erheben.
Roberto ist arm aufgewachsen, hatte aber das Glück, von einer Schuldirektorin gefördert worden zu sein, welche ihm mittels Stipendium zu Schulbildung verhalf. Danach studierte er, unter anderem in den Staaten. Mit seiner Arbeit gibt er jetzt weiter, was er erhalten hat und hat offensichtlich schon viel erreicht. Es ist mir eine Ehre, diesen Menschen zu kennen.
Mittlerweile befinde ich mich in schwülem Klima hier in Santa Cruz, seit über einem Monat zum ersten Mal unter 2500m, sogar unter 1000m.
Ich bin glücklich, wieder "on the road" zu sein. Das Gefühl, in einem Bus nach irgendwo zu sitzen, ohne eine Ahnung, obs einem gefallen wird, wo man schlafen wird, oder ob man überhaupt ankommt und wenn ja, ob mit allem Gepäck, ist unbeschreiblich.
Die Gedanken schweifen ziellos aber intensiv. Hundert Ideen, was man zu Hause machen könnte, aber auch, wie die nächsten Tage zu gestalten sind. Ein Gefühl unendlicher Freiheit, das mittlerweile viel an beängstigendem Beigeschmack verloren hat.
Ja, die Welt wartet auf mich. Sie will mir ihre Landschaften zeigen, ihre Städte, ihre Bewohner.
Im Herzen ist der Mensch vielleicht doch ein Nomade.
29.5.2002 - La Paz, Bolivia
14.6.2002 - Copacabana, Bolivia
17.6.2002 - Puno, Peru
25.6.2002 - Cusco, Peru
5.7.2002 - Pisco, Peru
20.7.2002 - Huaraz, Peru
4.8.2002 - Iquitos, Peru
19.8.2002 - Salvador, Brasil
4.9.2002 - Vitoria, Brasil
15.9.2002 - Rio de Janeiro, Brasil
29.9.2002 - Bonito, Brasil
12.10.2002 - Buenos Aires, Argentina
28.10.2002 - zu Hause
[Sourcecode des Reisebericht-Projektes (Mailinglist,MySQL)]


last update: 14. Mar 21

Author: Alain Brenzikofer